Mit der Passion Christi am Palmsonntag eröffnen wir die Karwoche, eine Zeit, in der wir eingeladen sind, die mensch- lichen Leidenswege unserer Tage zu reflektieren. Die Flut der Bilder und das eine große Antlitz
Liebe Gemeindemitglieder,
liebe Bürgerinnen und Bürger,
liebe Gäste,
ich sehe im Antlitz des Gekreuzigten die seelische Zerrissen- heit vieler Jugendlichen, de- nen ich als Jugendseelsorger begegne. Sie gründet für mich darin, dass wir kulturell kaum noch in der Lage sind, ihnen ein großes, lebenssinnstiften- des Narrativ anzubieten – die Zeit der großen Erzählungen ist wohl wirklich vorbei, wie der Philosoph Jean-François Lyotard meinte – andererseits überschüttet unsere Kultur Jugendliche mit einer schier endlosen, kaum noch zu verarbeitenden Flut an Banalitäten, Konsumangeboten und Social Media Content.
Immer mehr tritt zutage, dass Jugendliche die „kostenlosen“ Social Media-Plattformen wie TikTok, WhatsApp oder Twitter nicht nur mit ihren personenbezogenen Daten bezahlen, mit denen sich die Werbeindustrie dann dumm und dusselig verdient, sondern auch mit ihrer psychischen Gesundheit. Rund zweieinhalb Stunden nutzen die Jugendlichen durchschnittlich ihr Handy, Tag für Tag, am Wochenende sind es rund drei (Quelle: Jugend und Me- dien). Onlinespiele zählen in allen Klassen, die ich besucht habe, zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. „Bei dem Game habe ich schon über 1600 Spielstunden zusammen“, meinte neulich ein Wurzacher Gymnasiast beim Mittagstisch. Das ist krass gesagt, fast ein ganzes Arbeitsjahr! Über 200-mal am Tag drücken durchschnittliche Nutzer der jungen Generation auf ihr Handy, um bei den vielen Chatgruppen halbwegs dran zu bleiben, und das oft bis spät in die Nacht. Kein Wunder, dass Jugendliche 20 % weniger schlafen als noch vor hundert Jahren.
Ständig zieht das vibrierende Smartphone die Aufmerksamkeit aus unserer Realität hinüber in einen virtuellen Raum. Unser Gehirn ist aber nun mal gar nicht multitaskingfähig, sondern jongliert lediglich zwischen den Ebenen, wobei uns das mental auf Dauer ziemlich anstrengt. Die digitalen Sensationen sorgen zwar eifrig für die Ausschüttung von Dopamin, aber nach den vielen kleinen Kicks ist der Kater, die Leere, die Lustlosigkeit und die Langeweile umso größer.
Wenn sich meine Töchter am Samstagmorgen nach dem Frühstück an den Basteltisch setzen oder sich in die Spieleecke verziehen und dort für mehrere Stunden ganz vertieft etwas gestalten, dann weiß ich, jetzt geht es ihren Kinderseelen richtig gut. Ich wünsche ihnen nichts mehr, als dass sie diese Fähigkeit nie verlieren mögen. Denn das Geheimnis einer schönen Kindheit und auch eines glücklichen Erwachsenenlebens liegt darin, die Seele freudig im freien Spiel oder bei einer sinnvollen Tätigkeit zu entfalten. Doch frage ich mich dann auch, ob diese schöne Zeit vielleicht schon bald zu Ende geht, wenn sie als Teenager ihr erstes Smartphone einfordern und mit dem Blick auf dieses Gerät in den Tag starten.
Der Journalist Johann Hari hat ein geniales Buch geschrieben: „Abgelenkt.“ In der mangelnden Fähigkeit, sich überhaupt auf irgendetwas zu konzentrieren, sieht er eine moderne Volkskrankheit. Bei den Jugendlichen ist es aber primär kein persönliches Versagen, es hilft ihnen nichts zu sagen: Du bist schwach. Du bist faul. Du bist undiszipliniert. Sie werden ja in diese aufmerksamkeits- und sinndisruptierende Kultur hinein- geboren. Ihre Fähigkeit, sich zu konzentrieren, ist nicht verlorengegangen – sie wird ihnen oftmals schlicht gestohlen.
Nicht Multitasker sind also für die Zukunft gefragt, sondern Monotasker, Menschen, die wieder die Fähigkeit haben, sich ganz einer Sache hinzugeben.
Schön ist es zu hören, wenn mir Jugendliche erzählen, was ihnen guttut, was ihre Seelen stark macht: Den ganzen Nachmittag auf dem Fußballplatz, das Musizieren im Verein oder Orchester, die zehntägige Ministrantenhütte im Allgäu ohne Handynetz, die Theatergruppe, bei der sie ein Dreivierteljahr auf eine Aufführung hinarbeiten.
Sprichwörter und Weisheitsgeschichten können uns ori- entieren: „Wer zwei Hasen jagt, fängt keinen.“ „Tue eine Sache zur rechten Zeit.“, „Nur eines ist wichtig.“ (Jesus bei Lk 10,42). - „Was unterschei- det den Schüler vom Meister“, fragte der Novize seinen Leh- rer. Der alte Mönch gab zur Antwort: „Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich schlafe, dann schlafe ich“. „Aber das tue ich auch“, sagte der Novize. „Nein“, gab der Meister zur Antwort: Wenn du gehst, dann denkst du ans Essen, wenn du isst, denkst du ans Schlafen. Wenn du schlafen sollst, denkst du an alles Mögliche. Das ist der Unterschied.“
Ich wünsche Ihnen eine besinnliche und erholsame Karwoche. Mögen die stillen Fei- ertage Ihnen und Ihren Lieben die Aufmerksamkeit und Ruhe schenken, die unsere Seele braucht, damit sie in unserem Körper wohnen kann.
Diakon David Bösl